Aufregung im Parkhotel Heidehof in Ingolstadt. Rund zwei Dutzend Gäste werden behutsam an ihre Tische geführt. Manche sind jung, manche sind alt. Einige sind dick, andere sind dünn. Doch für einen Abend sind sie alle gleich, denn sie alle essen im Dunkeln. Im Stockdunkeln. Die Vorspeise riecht irgendwie komisch, findet Andreas Köhler. Was tun? Einfach probieren? Na klar. Geht aber schlecht, seine Gabel fehlt. Vielleicht die vom Nachbarn nehmen? Oder mit den Händen essen? Wieso denn eigentlich nicht? Ihn sieht ja keiner. Unbeholfen tastet Andi den Tisch nach seinem Vorspeiseteller ab. Gefunden. Beziehungsweise voll reingelangt.
Einige Stühle weiter scheinen sich ein paar junge Männer im Dunkeln bereits pudel wohl zu fühlen. „Prost“, brüllt einer, schon klirren die maßlos gefüllten Wassergläser der Männerrunde aneinander. Das meiste schwappt über, doch das stört niemanden. Plötzlich tippt dem leicht überforderten Andi jemand auf die Schulter: „Hallo noch mal. Ich bin die Verena. Ich bin heute Abend eure Kellnerin. Ist bei dir alles okay?“ Verena ist, wie die Gäste nach der Veranstaltung sehen, ziemlich klein, knappe 30, trägt Jeans und eine weiße Bluse, und sie ist von Geburt an blind.
Noch im Hellen, in der gemütlichen Hotelllobby, werden die Gäste von den Veranstaltern von „Essen im Dunkeln“, dem Mediateam München, auf die fremde Situation im Ungewissen vorbereitet. „Dunkelheit“, so erfahren die Gäste von den Mitarbeitern der Veranstaltungsagentur, „bedeutet, überhaupt gar nichts mehr zu sehen.“ Im Speisesaal herrscht Finsternis. Handys, Zigaretten und fluoreszierende Uhren sind tabu, denn schon das kleinste Licht könnte erahnen lassen, wie es im Speisesaal und auf den Tellern aussieht.
„Weiß auch jeder, worauf er sich hier eingelassen hat?“, fragt Eventmanager Thiemo Krause ernst in die etwas nervöse Runde. Plötzliche Stille. Ein Gefühl wie vor der Geisterbahn. Sprachlos starren die Gäste auf das angsteinflößende schwarze Loch. „Na dann kann’s ja losgehen“, entgegnet der hochgewachsene Mann lächelnd. Händchen haltend und in kleineren Gruppen geht es im Entenmarsch hinein in den dunklen Schlund. Eine Hand packt die eigene. Die kleine Hand ist sanft und warm. „Ich bin die Verena. Ich bring dich zu deinem Platz“, scheint die Hand zu vermitteln. Ohne sie wäre man verloren. Tastende Schritte. Nur zögerlich geht es durch den langen Gang. Plötzlich ist alles anders, die Luft kühler, die Stimmern sind lauter. Leises Klirren von Besteck. Endlich. Der Speisesaal. „Hier“, sagt Verena, „dein Stuhl, Platznummer 4b.“ Tatsächlich, die Lehne. Das Gefühl des Betrunken seins von vorhin, als es plötzlich kein Oben und kein Unten, kein Vorne und kein Hinten mehr gab, lässt endlich nach.
Die Stimmung ist heiter. Und die Vorspeiseteller sind rasch gelehrt. Feldsalat dazu Tomate-Mozzarella und Rauchfleisch - da ist sich die Männerrunde schnell einig. Doch was das kleine runde knackige Etwas war, darauf will sich keiner so richtig festlegen. Andi hätte wetten können, er habe Trauben gegessen. Wette verloren. Cocktailtomaten, verkündet Verenas ebenfalls blinder Kollege Peter später.
In ihrem normalen Leben ist die blonde Wasserratte Informatikerin. Als Kellnerin arbeitet Verena Bentele nur bei „Essen im Dunkeln“. Rund 15 „Freizeitkellner“ haben sich mit Hilfe des Bayrischen Blinden- und Sehbehindertenbundes seit dem Start von „ Essen im Dunkeln“ im Jahr 2003 bereits zusammengefunden. „Wir orientieren uns mühelos im Raum. Für uns ist es ein Kinderspiel, mit den Servicewagen an den Gästen vorbei durch den Raum zu schlängeln“, erklärt Verena. Für sie ist der Nebenjob, den sie etwa zweimal im Monat wahrnimmt, eine nette Abwechslung zum Büroalltag. Viel leichter komme sie hier mit anderen ins Gespräch. Als Kellnerin fühlt sie sich als Teil der Gesellschaft, „denn im Dunkeln“, sagt Verena, „sind alle gleich“.
Im Saal duftet es jetzt wunderbar nach Festtagsbraten – der Hauptgang wird serviert. Messer und Gabel haben inzwischen alle griffbereit. Doch mit dem Schneiden und Aufspießen ist das so eine Sache. Petra sagt: „Ich glaube mein Teller ist leer.“ Ist er nicht. Und Anja kichert: „Das riecht so gut, und ich habe so einen Hunger, ich nehme jetzt einfach meine Finger.“ Andi meint: „ Richtig so.“ Das Einhalten der Tischsitten ist nahezu unmöglich. Auf welche Art auch immer, fast jeder isst auf. Und alle sind sich einig: Die Beilagen, das waren ganz klar Röstkartoffeln und Karotten. Doch was das Fleisch angeht, klaffen die Meinungen weit auseinander. Von Pute über Rind bis hin zu Lamm ist alles drin. Kellner Peter klärt auf. „Kalbstafelspitz und Röstkartoffeln, dazu Bratensoße und gedämpfte Karotten.“ „Hätte ich bloß genauer hingeschaut“, ruft Petra und lacht. Sie ist Mitte 20 und gutaussehend, wenn man dem Klang ihrer Stimme glauben kann. Am Nachbartisch knistert es bereits- Ein charmanter bayrischer Akzent flirtet wild mit einer erotischen Frauenstimme. „Das ist dann wohl ein echtes Blind Date da am Nachbartisch“, ruft Andi. Alle lachen.
Im Dunkeln ist alles anders. Klänge, Gerüche und auch Verhaltensweisen. Der sonst so schüchterne Andi kommt während des Desserts bestens mit Anja ins Gespräch. Petra, die – wie die anderen nach der Veranstaltung sehen – schon weit über 40 ist, schlüpft für eine Weile wieder in den Körper einer 20-Jährigen. Und für gut zwei Stunden sehen die Blinden besser als die Sehenden.
„Essen im Dunkeln“ ist ein mobiles Konzept mit enormem logistischen Aufwand. Vom Mediateam wird es in München, Stuttgart und Ingolstadt angeboten. Die Preise für einen Abend liegen je Person zwischen 60 und 100 Euro. Vor jeder der Veranstaltungen werden die Gäste zunächst je nach Vorlieben, Allergien und Menüwahl auf die Tische verteilt.
Schon ist es soweit: Das Dessert wird abgetragen. Ein Zeichen, dass gut zwei Stunden schon vorbei sein müssen. Die Dunkelheit scheint jegliches Zeitgefühl geschluckt zu haben. Um 22 Uhr gefühlter Zeit, in Wirklichkeit ist es nach 23 Uhr, kommt die Erleuchtung. Die Kellner führen wieder hinaus. Zurück ins Licht. Die Augen schmerzen, und so manchen geht mehr als nur ein Licht auf.